Donnerstag, 31. August 2023

Apfelmädchen - Tina N. Martin

 

Apfelmädchen
Thriller
Blanvalet
Autorin: Tina N. Martin
aus dem Schwedischen übersetzt von Leena Flegler
512 Seiten
ISBN 978-3-7341-1165-5
erschienen am 21. Juni 2023






Apfelmädchen ist das Thriller-Debüt der Autorin Tina N. Martin. Die Geschichte spielt in Schweden in der Gegend um die Stadt Boden, in der Tina N. Martin selbst lebt. 






Die Geschichte kommt für mich scheinbar langsam ins Rollen. Auf den ersten rund 80-100 Seiten gewöhne ich mich an den Erzählstil und die Charaktere. Im Laufe der Erzählung werden es immer mehr Figuren. Diese haben gute Unterscheidungsmerkmale, doch trotzdem muss ich - sobald wiederholt die Rede von einem dieser Charaktere ist - mich bemühen, mich daran zu erinnern, um wen es jetzt gerade geht. 

Die Mühe lohnt sich. 100 gelesene Seiten später mag ich das Buch schon gar nicht mehr aus der Hand legen. 

Apfelmädchen wird in zwei Ebenen erzählt. Die eine Ebene spielt ab dem Jahr 1975, die andere aktuell im August. 

Aktuell sind Kriminalkommissarin Idun Lind und ihr Partner Calle Brandt dabei, einen Mordfall aufzuklären. Die beiden sind ein eingespieltes Team und können sich scheinbar blind aufeinander verlassen. Der Mordfall wirft viele Fragen auf: niemand hatte offenkundig ein Mordmotiv gegen das Opfer. Und doch wurde der Leichnam der jungen Frau sogar eigens in Szene gesetzt.


Triggerhinweis

Bei diesem Buch komme ich leider nicht umhin, einen Hinweis zu geben. Wer sich überraschen lassen will, liest hier nicht weiter, sondern erst wieder ab der nächsten Überschrift Meine Meinung

Apfelmädchen spricht über häusliche Gewalt, über erwachsene Menschen in Wirkungsfeldern, denen sie nicht gerecht werden und hat einen religiösen bzw. einen Bezug zu Sekten.

Ich kann alle verstehen, die aufgrund der Thematik hier aussteigen. 


Meine Meinung

Apfelmädchen ist ein klug erzählter Thriller. Die Geschichte nimmt einen überraschenden Verlauf und wartet mit einem - zumindest anfangs - überraschenden Ende auf. Der Erzählstil wirkt auf mich noch etwas ungelenk, die Geschichte ist aber gleichwohl spannend. 

Es gibt viele Charaktere, die aufeinandertreffen, und diese grenzen sich alle sehr gut voneinander ab. Jeder hat seine Eigenart, seinen eigenen Stil. Das gefällt mir und hat einen hohen Wiedererkennungswert. Bei den Namen musste ich allerdings etwas länger überlegen, wenn die Charaktere wieder in Erscheinung treten. Das hat den Lesefluss etwas gehemmt. 

Dafür war die Spannung da. Tina N. Martin motiviert mich mit ihrer Art die Geschichte zu erzählen die Beweggründe und die handelnden Akteure zu begreifen. Die Emotionen der Charaktere blieben ein wenig auf der Strecke, dafür nimmt Tina N. Martin kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Greueltaten geht. Das ist auch der Grund, weshalb ich einen Triggerhinweis in meiner Rezension platziert habe. Dazu kommt eine etwas raue Art, die Geschichte zu erzählen. An zwei, drei Stellen musste ich erst noch einmal zurückgehen, um noch einmal nachzulesen, ob die Figuren auch genau dort sind, wo sie sein sollen: unterwegs im Auto oder noch am Schreibtisch sitzend. Wer sich mit solchen Details nicht aufhält, ist jedoch richtig im Schwung der Geschichte. 

Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Art der Erzählung von Tina N. Martin liegt oder ob vielleicht aufgrund der Übersetzung von Leena Flegler abrundende Details fehlen. Bei Übersetzungen aus dem Schwedischen stelle ich häufig fest, dass ein Lektorat der Geschichte oftmals gut tun würde. In dieser Übersetzung von Leena Flegler scheint mir aber alles stimmig übersetzt zu sein.


"Sie waren als Eltern komplette Versager. All das, was Papa uns zugemutet hat - die Schläge, die Drohungen, der Hohn. Das verzeihe ich ihm nie, und ich verzeihe Mama nicht, dass sie zu alldem den Mund gehalten hat." - Seite 53


Apfelmädchen gewährt mir als Leserin einen Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche. Ich empfehle starke Nerven beim Lesen. 


"Es sind zärtliche Worte, doch seine Stimme ist hart. Mit einem Mal ist ihre Kehle ganz trocken und fühlt sich an wie zugeschnürt. Schon bemerkenswert, wie zwei kurze Sätze ein Gefühl erzeugen, als würde ihr jemand den Hals zudrücken." - Seite 86


Die Geschichte wird erzählt, wie ein rauer Wind, der einen durchrüttelt und nicht mehr loslässt. Ich freue mich schon jetzt auf den zweiten Band und ein Wiedersehen mit Idun Lind und Calle Brandt mit Gewittermann

Wer Apfelmädchen liest, entscheidet sich für einen Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche.


Fazit

Apfelmädchen ist für alle, die tief in die Abgründe der menschlichen Psyche blicken wollen und eine zeitweilig raue Erzählart abkönnen.


Samstag, 12. August 2023

Das Licht im Rücken - Sandra Lüpkes

 

Das Licht im Rücken
Roman
Kindler Verlag / Rowohlt Verlag
Autorin: Sandra Lüpkes
496 Seiten
ISBN 978-3-463-00025-1
erschienen am 16. Mai 2023
Hörbuch
Argon Verlag
Sprecherin: Claudia Michelsen
Laufzeit 12 Stunden 4 Minuten
ISBN 978-3-8398-2028-5
erschienen am 24. Mai 2023




Das Licht im Rücken erzählt die Geschichte der Leica und zweier Familien, deren Geschichte fest mit der ersten Kleinbildkamera verbunden sind. Sandra Lüpkes erzählt zum Einen die Geschichte der Familie Leitz, deren Sohn des Werkgründers die Fertigstellung der Leica befürwortet und vorantreibt und zum anderen die Geschichte einer fiktiven jüdischen Familie, die mit ihrem Ladengeschäft Haus der Präsente und vor allem mit den beiden heranwachsenden Kindern Dana und Milan zwei ebenso starke Persönlichkeiten in die Geschichte der Leica einbindet. 



Das Licht im Rücken spielt in den Jahren 1914 bis 1945. Als Leserin erlebe ich zunächst, wie der Tüftler und Entwickler Oskar Barnack den ersten Prototyp der Leica baut, testet und es zu dem ersten Foto auf dem Eisenmarkt in Wetzlar kommt. Das ist für mich an sich schon ein sehr aufregender Moment. Ich habe zwar nie eine Leica besessen, aber ich liebe aussagekräftige Fotografien. Und genau diese kommen in der Geschichte der Leica im Zeitraum 1914 bis 1945 auf unterschiedlichste Art und Weise zum Tragen. Erst die Leica Liliput, dann - im Krieg - die Leica Propaganda

Es ist für mich faszinierend und unglaublich zugleich, wie raffiniert diese neue und teure Technik in Kriegszeiten eingesetzt wird. Soldaten erhalten eine Kleinbildkamera um gut inszenierte Fotografien "nach Hause" zu schicken. Natürlich müssen diese Fotografien das Bild der Deutschen Wehrmacht ins rechte Licht rücken. Schließlich werden diese Bilder für die Presse und als Werbung genutzt.

Sandra Lüpkes hat mehr als umfassend recherchiert und Charaktere - ob wahre oder fiktive - großartig in Szene gesetzt. Sie alle bleiben mir in Erinnerung, als hätte ich sie selbst erlebt. Als hätte ich an ihrer Seite gestanden. Als hätte ich Höhen und Tiefen mit ihnen durchlebt. Besonders ist mir aus der Familie Leitz Elsie an Herz gewachsen. Als Mädchen ist sie immer ein bisschen "außen vor" und deshalb oft ungestüm. Sie hat ihren eigenen Kopf und dank ihrer Sturheit auch den nötigen Biss, um sich durchzusetzen. Auch Milan und Dana sind mir ans Herz gewachsen. Beide mussten "sehen, wo sie bleiben". Jüdischstämmig, die Mutter abgehauen, der Vater traurig, das Geschäft läuft mal besser, mal schlechter aber ohne ihr Zutun überhaupt gar nicht. Und die eigenen Träume? Träume, die gelebt werden wollen? Starke eigene Interessen und ein starker eigener Willen stehen dem politischen Geschehen ringsherum entgegen. Echte Freunde und Verbündete finden sie glücklicherweise bei der Familie Leitz

Das Licht im Rücken hat mich so sehr gefesselt, dass ich die Geschichte am liebsten in einem Rutsch gehört hätte. So lebendig war das Geschehen erzählt, so tiefgründige Charaktere haben mich unterhalten und in die Geschichte der Leica eingeladen. Auch jetzt, Stunden nach dem Hörerlebnis, habe ich immer noch das Gefühl, mir den Staub von den Hosenbeinen klopfen zu müssen und zu kontrollieren, ob ich meine Leica noch unversehrt bei mir habe. Denn, dass ich eine Leica - zumindest zu Testzwecken - in der Hand halte, scheint mir unverhandelbar. Wahrscheinlich wäre ich genauso starrköpfig wie Elsie und hoffentlich so diskussionsstark. Nur für ihren ausgelebten Hang, sich in Szene zu setzen, wäre ich wahrscheinlich zu wohlerzogen angepasst. 

Ich habe die Geschichte um die Leica so, so gern erlebt und kann sie allen Geschichts- und Fotoliebenden ans Herz legen. 

Für die Hörbuchfassung hätte ich mir niemand anderen vorstellen können, als Claudia Michelsen. Claudia Michelsen spielt mit ihrer Sprachmelodie und der Lesegeschwindigkeit so gekonnnt, dass es jedes Wort, jede Bedeutung unterstreicht und in Szene setzt. Ich lieb´s.


Fazit

Das Licht im Rücken ist für alle, die fotobegeistert sind und die Entwicklung der Leica anhand einer spannenden Familiengeschichte erleben wollen.


Bonus

Wusstest du, dass Sandra Lüpkes die Idee zu dem Roman Das Licht im Rücken bereits bei den Recherchen zu Die Schule am Meer gekommen ist? Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie sehr Sandra Lüpkes gleich zur Geschichte der Familie Leitz und zur Geschichte der Leica weiter recherchiert und geschrieben hätte. Mehr darüber erfährst du im Podcast von Michel Birnbacher und bei HR2

Dienstag, 8. August 2023

Solange wir leben - David Safier

 

Solange wir leben
Historischer Roman / Biografischer Roman
Kindler Verlag / Rowohlt
Autor: David Safier
464 Seiten
ISBN 978-3-463000305
Hörbuch
Argon Verlag
Sprecher:innen: David Safier, Reinhard Kuhnert, Vera Teltz
Laufzeit: 11 Stunden 9 Minuten
ISBN 978-3-7324-2019-3
beide erschienen am 18. April 2023




Solange wir leben ist sowohl ein historischer als auch biografischer Roman. Der Roman handelt von Joschi und Waltraut. Erzählt wird die Geschichte im Wechsel jeweils aus der Sicht der beiden. Eigentlich sollten sich die beiden nicht kennen- und schon gar nicht lieben lernen. Dafür sind sie viel zu unterschiedlich. Unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters. Und doch finden sie irgendwie zueinander und freuen sich jeweils aufeinander, wenn sie sich wiedersehen. 




Solange wir leben ist die Geschichte der Eltern des Autors David Safier. Und, so sagt er selbst, "er hätte die Geschichte seiner Eltern nie erzählt, würde ihre Geschichte nicht wie die großer Romanfiguren auf ihn wirken". Und, mal unter uns: ich kann das nur unterschreiben. Würde Solange wir leben verfilmt werden, ich hätte als eine der Ersten mein Ticket fürs Kino.

David Safier erzählt die Geschichte mit der zärtlichen Liebe eines Kindes zu seinen Eltern. Die Zeiten, in denen sie aufgewachsen sind, waren unruhig, voller Unsicherheit, Entbehrungen und Ängsten - und doch ist da für mich als Leserin immer dieser Glanz, dieser warme Schimmer an Hoffnung, dass am Ende alles gut wird. 

Nun, für den Autor jedenfalls wurde es gut: schließlich wurde er geboren und darf heute ganz ohne Kriegswirren Bücher schreiben. Doch für seine Eltern war die Zukunft ungewiss und oft wenig erfreulich.


"Es gibt kein leichtes Leben. Auf eines zu hoffen, enttäuscht nur." Gabi zog ihre Hand weg. "Glaub mir, je eher du das begreifst, desto besser: Leben heißt leiden." Waltraut nahm Gabis Hand wieder, hielt sie ganz fest und wiederholte, damit die Tochter auch begriff: "Leben heißt leiden." - Seite 213


Trotz der Schwere der Zeit und der oft düsteren Aussicht schafft David Safier die Szenerie durch seine Erzählweise und seinen Humor - den er vermutlich von Joschi geerbt hat - zu erhellen. Der Charme von Joschi und die scharfzüngige Waltraut machen den Wortwechsel lebendig und es ist, als wäre ich Zeuge ihrer teils privaten Gespräche und ihrem Schlagabtausch in der Öffentlichkeit. Die Warmherzigkeit, mit der David Safier die Geschichte erzählt, lässt mich immer wieder hoffen, dass beide Elternteile glücklich sein werden. 

Für mich war es ein ganz wunderbares Lese- und Hörerlebnis, die Zeit, beginnend vor bald neunzig Jahren in Deutschland und Palästina, aus der Sicht von Joschi kennenzulernen und später an der Seite von Waltraut die Kriegszeit, die Trümmerjahre und das Wirtschaftswunder in Deutschland zu erleben. Wenn ich an die beiden als Paar denke, fällt mir das Wort "mondän" ein. Joschi, der mit einer Geschmeidigkeit durch die Welt und die Wirtschaft reist und Waltraut, mit ihrer gepflegten Schönheit und Gewandtheit. Wie David Safier bereits sagte: seine Eltern sind wahrlich Romanfiguren. Für mich könnten es Leinwandhelden sein. 

Eingelesen wurde das Hörbuch von drei Sprecher:innen, von David Safier, Reinhard Kuhnert und Vera Teltz. Anfangs war ich etwas verunsichert, dass dieser Roman drei Sprecher:innen benötigt. Und während des Hörens bestätigte sich das für mich auch immer wieder. Der Wechsel der Erzählstimme hat mich eher aus dem Fluss der Geschichte aufmerken lassen. Und doch fand ich es gut, dass am Ende, am Ende David Safier selbst die Stimme zur Erzählung lieferte. 


Fazit

Solange wir leben ist für alle, die gern sowohl historische als auch biografische Romane der Kriegs- und Nachkriegszeit lesen und in das wahre Leben der Charaktere eintauchen wollen.